Anfang September letzten Jahres. Die Tage werden kürzer, schon bald wird die Sonne wieder um 16 Uhr untergehen. Dunkelheit, Kälte und Schnee, der Winter naht. Im Internet stoße ich auf der Website der Münchner Jivamukti-Schule auf folgendes Event:
The 11th annual JivaBhaktiJam with Petros, Spring Groove and Erhard Dengl in Triopetra auf Kreta, Griechenland.
Für mich klingt das nach zehn Tagen Yoga und Chanten im sonnigen Kreta. Gibt es eine schönere Art, um in den Winter zu starten? Ich rufe Melli von Yogatravel an und habe Glück. Es ist noch ein Platz frei und so sitze ich zweieinhalb Wochen später im Flieger nach Kreta. Es ist bereits mein zweiter Aufenthalt. Ich bin sehr gespannt, was mich diesmal erwartet.
Bei der Autovermietung Greenways am Flughafen von Heraklion treffe ich dann die ersten bekannten Gesichter. Einige sind schon zum sechsten Mal dabei. Viele kenne ich auch vom Yoga- Üben in der Buttermelcherstraße. Wie schön euch alle wieder zu sehen. Wir teilen uns je ein Auto zu dritt. Die Fahrt von Heraklion nach Triopetra führt erst einmal am Meer entlang, dann geht es ins Landesinnere. Kilometerlange kurvige Straßen führen durch malerische Olivenberge und ich ertappe mich dabei, wie ich nach Alexis Sorbas Drahtseilbahn Ausschau halte. Die Straße wird holpriger und enger. Irgendwann taucht am Straßenrand ein unbeleuchtetes Holzschild auf, auf das jemand mit dunkler Farbe „Pavlos“ gemalt hat. Wir sind angekommen. Pavlos Place besteht aus einer lockeren Ansammlung heller, freundlicher Gästehäuser mit einem fantastischen Blick auf die Lybische See. Ein Paradies von einer auf den ersten Blick eher stillen, zurückhaltenden Schönheit, das seine Magie jedoch in den nächsten Tagen voll entfalten wird. Benannt wurde Triopetra nach drei Felsen, die unten am Strand stehen. Von ihnen soll eine urwüchsige, magische Kraft ausgehen. Von den Yogis wurden sie deswegen wohl in Shiva, Vishnu und Brahma umbenannt.
Am nächsten Morgen geht es sofort los: Zuerst Gruppenmeditation mit Unterricht von Petros gefolgt von einer intensiven Asanapraxis, die von Erhard (Tabla) und Springs wunderschöner Stimme live begleitet wird. Wer überfüllte Yogastudios mit beschlagenen Fenstern gewohnt ist, dem tut sich hier eine völlig neue Dimension des Übens auf. Schon bei meiner ersten Meditation auf der Dachterrasse der Yogashala tauche ich ein in den Rhythmus der Wellen, dem Gesang der Vögel, dem Rauschen des Windes. Mein Herz beginnt im Takt der Wellen zu schlagen und in meinen Adern rauscht der Wind. In diesem Moment sehne ich mich so gar nicht zurück nach der Großstadt. Bei geeignetem Wetter wurde auch die Asanapraxis teilweise nach draußen verlegt. Wer einmal den Sonnengruß geübt hat mit Blick auf den Strand und das tief blaue Meer, der möchte nie wieder anders üben.
Am Nachmittag ist Beach-Time angesagt. Doch Triopetra, dieser magische drei Felsen Ort, verwandelt selbst das Lesen einer Illustrierten in Yoga. Einatmen, Ausatmen, das Üben hört auch im Liegestuhl nicht auf. Einige aus der Gruppe sammeln Steine für ein Mandala, andere üben Schulter- und Kopfstand im Sand. Die Musiker aus der Gruppe nehmen – wegen des perfekten Sound – gemeinsam mit Spring Mantren in einer alten Kirchenruine auf. Eins machen jedoch alle: Schwimmen, der inoffiziellen dritten Yogadisziplin dieses Retreats. Wer längere Zeit in der Lybischen See schwimmt, für den lösen sich die Grenzen irgendwann auf. Das Meer, der Himmel, ich selber- alles wird eins, ähnlich wie beim Meditieren. Eine Hauptattraktion ist dabei der Shiva-Felsen. Besonders Sportliche klettern ganz nach oben hinauf, um dann aus etwa zehn Meter Höhe ins Meer zu springen – sicher eine der größten Herausforderungen dieses Retreats. Lernt man dabei doch wie in kaum einer anderen Übung seine Ängste kennen und zu überwinden. Davon abgesehen: Wer erhält in seinem Leben schon die Gelegenheit vom Haupt eines indischen Gottes zu springen? Ich gehöre dagegen zu den weniger Wagemutigen. Immerhin schaffe ich es bis zu Shivas Füßen. Und wunderbarerweise gelingt es mir auch, den Felsen ohne Blessuren wieder zu verlassen. Sind die Muscheln, die auf ihm wachsen, doch scharf wie Rasierklingen.
Am Abend wurde auf der Dachterrasse der Yogashala gechantet. Neben intensiver körperlicher Praxis, Philosophie, Meditation, Hingabe und Gewaltlosigkeit ist Musik die sechste wichtige Säule des Yoga. Oder wie Petros es ausdrückte:
„Mantrasingen ist kein intellektueller Trip. Das Wort Mantra bedeutet: „Das Muster, das wir von unserem Geist erhalten, zu erweitern oder zu durchdringen.“ Während wir singen, sollten wir frei von Meinung sein. Wir sollten uns überhaupt nicht in irgendeine bestimmte Richtung bewegen. Denn es gibt keine Vorliebe oder Abneigung mehr. Es gibt nur den Ton und ein Erkennen des Tons, der nicht persönlich ist. Es gibt keine Person, die sagt: „O das gefällt mir.“ Wenn Gefallen passiert, passiert es eben. Es ist nicht persönlich. Wenn ich zu Krishna singe, dann verkörpert oder symbolisiert er die absolute Form der Liebe, von der ich gesprochen habe. Das wiederum symbolisiert den blauen Himmel, die Sterne, die Sonne, den Mond sowie die Augen und die Herzen von jedem einzelnen von uns. Findet ihr das zu romantisch?“
Wir chanteten jeden Abend bis zum Sonnenuntergang und bestaunten dabei ein immer gleiches Phänomen: Die Sonne, anfangs noch eine Art großer gelber Ball, schrumpfte allmählich zusammen, bis sie schließlich als kleiner roter Punkt im Meer verschwand. Ein grandioses Schauspiel, das niemals langweilig wurde. Auch am letzten Tag des Retreats schauten wir noch genauso ehrfürchtig zu wie beim ersten Mal, machten die immer gleichen Aufnahmen mit unseren Smartphones, als könnten wir
so die Vergänglichkeit dieses eindrücklichen Moments stoppen. Doch was bitte ist so besonders an gerade diesem Sonnenuntergang? Schließlich geht die Sonne tagtäglich überall auf der Welt unter, ohne dass wir Filme davon auf Facebook posten. Liegt es vielleicht daran, dass hier in Triopetra etwas Göttliches sichtbar wird, das wir normalerweise übersehen? Die Sonne als Meditationsobjekt oder wie Petros es ausdrückte „als Symbol absoluter Liebe“? Auch wenn das für den einen oder anderen ein wenig zu romantisch klingen mag, eins war am Ende des Retreats allen aus der Gruppe klar: Yoga beinhaltet mehr als schweißtreibende Asana-Fitness. Doch nur wer sich Zeit nimmt und sich darauf einlässt, wird diese Magie auch erleben. Einer der Teilnehmer drückte es so aus: „Es waren zehn Tage wie im Himmel.“
Ein Reisebericht von Brigitte Wehrmann