Home  /  BEYOND   /  2023 – welche Geschichte erzählen wir?

Jedes Jahr erzählt viele Geschichten und über die Jahre ergibt sich eine Realität, die sich durch unsere Gefühle innerhalb dieser Geschichten ergeben. Hoffnung, Freude, Angst oder Liebe finden wir in immer wechselnden Gewändern wieder. Real ist, was unsere Gefühle bestätigt. Was wir glauben oder nicht hängt von diesem Spiel ab. Seit vielen Jahren spielen sich Geschichten ab, die unseren Glauben an etwas als Irrglauben demaskieren – im Sinne der Aufklärung und den fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnissen. So wissen wir heute, dass die Geschichte gesunder Ernährung, wie wir sie noch vor einer Generation erzählten, leider ein zu lange von ökonomischen Motiven getriebenes Märchen war.

Auch der Glaube an ein fortlaufendes Wirtschaftswachstum oder die fatale Geschichte des kolonialistischen Denkens, dass über Jahrtausende bis heute eine Über- oder Unterlegenheit verschiedener Gesellschaftsformen, Traditionen, Geschlechter oder Herkunft als Motiv für die fantastischsten Auswüchse menschlichen Irrsinns befeuerten, erweisen sich als unhaltbar. So stellen wir nun den rationalen Teil der Geschichte aufgrund der technischen, sozialen oder gedanklichen Möglichkeiten nicht ohne Grund in den Vordergrund, und Aber- und Irrglaube in den Hintergrund. Diese Geschichte ist logisch und aufgeklärt und sie gibt eine Demarkationslinie des Realen für unsere Zukunft vor. Diese Geschichten sind voller Zahlen und Fakten, mit Abgrenzungen, kategorischen Werten und einer Betonung des Sittlichen über das Sinnliche.

Doch: Wir haben gelernt zu hinterfragen was wir glauben und gleichzeitig verlernen wir zu hinterfragen was wir nicht glauben. Der Grenzverlauf des faktisch Wirklichen zum mythisch Unwahrem ist klar definiert und wir erklären: Der Wahrheitsgehalt der Geschichte, die wir leben ist klar erkennbar und benennbar. Wir glauben nicht an Geister oder Dämonen oder die Seele oder an Gott. Wir glauben nicht mehr an das Christkind und nicht mehr an das mystische unseres Seins. Wir glauben nicht mehr an eine beseelte Welt, wir glauben nicht mehr an etwas Heiliges. An dieser Stelle müssen wir uns jedoch Fragen, welche Geschichte der Verlust dieser Elemente denn nun schreibt. Wir sind im Jahre 2023 angekommen, die KI macht unsere Kunst, das Navi unsere Orientierung und der Algorithmus unsere Aufmerksamkeit. Das ganze einhergehend mit einer nie dagewesenen Zahl an depressiven Kindern und Jugendlichen, einer neuen Dimension an selbstverständlichen Gebrauch von Sedativa und Opiaten, einer inflationären Verfügbarkeit aller technischen Konsummöglichkeiten, einer überwältigenden Zahl an psychischen Erkrankungen sowie intellektueller Degeneration (ja, wir sind erwiesenen und belegten Maßen kognitiv weniger fähig als die vorhergehenden Generationen und der Trend beschleunigt sich), das Mikroplastik und andere toxische Einflüsse lassen uns steril werden. Es gab noch nie so viele Waffen auf dieser Erde und was Waffen für unsere Geschichte bedeuten war immer, ja immer, klar.

Ich denke jedoch, dass wir allmählich erkennen, wie die Grenzverläufe der definierten Werte sich nach und nach auflösen – wenn wir an nichts mehr glauben, was uns Heilig ist, verlieren wir die Intimität und Vertrautheit mit dem Leben – und die sind nicht zu ersetzten und alles Denken erklärt noch keinen Frieden im Herzen oder ein gutes Gefühl in der Welt. Wir sehnen uns förmlich nach einem tieferen Sinn, und suchen Ihn in der gedachten Zukunft. Doch da gibt es keine Nestwärme, in all den digitalen Irrlichtern herrscht der Kummer der Illusion. Und diesem Kummer werden wir uns nicht entziehen können. Wir werden, so wie mit allen vergangenen Maschinen eine Beziehung entwickeln, doch dieser Vater wird uns nie lieben, wie Freud es Im „Unbehagen in der Kultur“ beschreibt. Und das unsagbare, mystische, heilige, intime, persönliche der Liebe ist die Geschichte, nach der wir uns sehnen. Jeder einzelne und alle gemeinsam. Denn dieses zutiefst sinnliche, fühlende, pulsierende Unerklärliche ist unsere wahre Geschichte. Diese Geschichte erzählten wir uns über zehntausende von Jahren. Das ist unser genetisches Zuhause, auf dieser Erde. Das wärmte unsere Bäuche und Herzen und ermöglichte dem Menschen ein integres, wahrhaftiges symbiotisches, homogenes Da-Sein in und mit dieser Welt, in und mit unserer Mutter, in und mit unserer Liebe.

Dieser kurze Moment der Menschheitsgeschichte, in dem wir den Glauben an diese Wirklichkeit verloren haben und unsere Realität aus tausend flackernden Bildschirmen, die uns füttern gebaut haben, ist der erste und einzige Moment der Geschichte in dem wir diese Welt und die Wesen darin am Abgrund der Auslöschung balancieren. Es braucht nur einen technischen Defekt oder Fehlmeldung und diese Welt brennt lichterloh – uns wir fühlen es. Es hält uns nachts wach und lässt uns innehalten, wir sind auf globaler Sinnsuche wie nie zuvor. Denn wir fühlen diese Welt, die unsere erste und letzte Lehrerin ist.

Und so fühlen wir, wie an der Oberfläche zwar die Welt und wir darin in einem desolaten Zustand ist, doch wir erkennen auch, dass dieser Zustand, medial Dauerbefeuert, eine Blase ist, die sich aufgrund ihrer mangelnden Substanz auflösen wird. Die wahre Geschichte ist nämlich die der unumgänglichen Verbundenheit mit unserer Natur, die tiefe mystische und göttliche Einheit allen Seins. Dies als naive, polarisierende Gegenströmung zum Trend der menschlich – rationalen Gedankenwelt und ihrer Projektionen zu verstehen wäre zu eindimensional. Gesellschaftlich erkennen wir nach und nach, wie der Kern der gesellschaftlichen Ideologien sich aushöhlt, die Häfen der Macht selbst den mächtigen keinen Schutz bieten, wie die Gefangenen dieser Ideologien sich nach Befreiung sehnen, sich die Reichen nach Erlösung aus Ihrer Armut sehnen, die Mächtigen nach Erlösung von ihrer Hilflosigkeit, wie das Streben nach Bequemlichkeit erkennbare Höllen der Sinnlosigkeit schafft, die Kriegerischen und Gewalttätigen beten heimlich, damit ihre Angst verschwindet. Die Leere innerhalb der Macht, dem Reichtum, der Kontrolle, dem Komfort wird unerträglich.

Das Fundament bekommt Risse, Wahrheiten, die lange geleugnet wurden, sickern durch die Ritzen. Widersprüche brechen durch die zerbrochene Kruste. Die Menschen haben immer weniger Vertrauen in stereotype Ideale, die die Welt fixieren.

Anstatt weiterer Ideologien gibt es eine offensichtliche Besinnung. Die empirische Wissenschaft bestätigt immer öfter das alte Wissen von subjektiven Kräften und der ausnahmslosen Verbundenheit allen Lebens.

Wir glauben nicht mehr an Geister, das schreibt unsere Geschichten. Doch die Realität unseres Fühlens schreibt eine andere Geschichte, und die ist es Wert zu erzählen. Wie unser Fühlen in der Welt unsere Wirklichkeit formt und wie unsere Natur uns alles lehrt, was es zu wissen gibt können wir in der Geschichte von einem der wichtigsten und ältesten Lehrer in der Tradition des Yoga, Dattatreya, finden. Der junge Dattatreya ist dafür bekannt, dass er allein und ohne Lehrer begann, aber Erleuchtung erlangte, indem er die Natur während seiner Wanderungen beobachtete und diese natürlichen Beobachtungen als seine vierundzwanzig Lehrer behandelte.

Die Erde repräsentiert den Dharma. Wind symbolisiert die Freiheit der Wahrheit. Die Sonne, der Mond und der Ozean betonen die unveränderliche Natur der Wahrheit. Der Himmel zeigt die unendliche Natur des Selbst. Die Spinne erinnert uns an die vergängliche Natur der materiellen Welt. Die Motte, der Elefant, der Hirsch und der Fisch warnen vor der überwältigenden Ablenkung durch Wünsche. Taube, Honigbiene, Kurari-Vogel und Pingala warnen vor weltlichen Bindungen. Das Kind beschwört das Glück der Freiheit von materieller Sorge herauf. Die Python und die Honigbiene betonen die Vorteile des einfachen Lebens. Feuer und Wasser lehren die Kraft, die Verschmutzung der materiellen Welt zu reinigen. Das Mädchen und die Schlange lehren uns, jede Ablenkung durch unerwünschte Dinge zu vermeiden. Der Pfeilschmied lehrt uns, konzentriert zu bleiben und uns auf das Ziel zu konzentrieren. Die Raupe lehrt, dass man das ultimative Ziel erreichen kann, indem man sich auf Gott konzentriert.

https://en.wikipedia.org/wiki/Dattatreya?Mc_cid=ff4e9dd340&mc_eid=b8292cd821

Wir wünschen uns allen ein gutes, waches, lichtes Jahr – mit verlässlichen Erfahrungen der Selbsterkenntnis, mit wirklicher Liebe und Bereitschaft für das Gute, sowie von Nichts zu viel 😉

Von Petros Haffenrichter

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